Ein Schlüsselelement sowohl für das mobile Büro als auch für den fliegenden Denkraum ist eine funktionsfähige Infrastruktur. Wichtig erscheint mir, zwischen »funktionsfähig« und »funktionstüchtig« zu unterscheiden. Während die Funktionsfähigkeit die grundlegende Fähigkeit eines Systems bezeichnet, seine Aufgaben zu erfüllen, geht die Funktionstüchtigkeit noch einen Schritt weiter. Sie beinhaltet Aspekte wie einfache Zugänglichkeit und Handhabung, die Berücksichtigung des ökologischen Fußabdrucks und Kriterien, die eine Anerkennung von Fortschritts im Sinne einer prosperierenden Gesellschaft fördert. Prosperierend ist hier insbesondere immateriell gemeint und deshalb wage ich, über die Frage hinauszugehen, ob ich meine Zeit im Zug eher arbeitend am Bildschirm oder fernfahrstarrend denkend verbringe.
Arbeit ist die tätige Auseinandersetzung mit der Welt.
Eine Bahnverbindung, die es mir ermöglicht, meinen Beitrag zu leisten, auch wenn ich nur denke, setzt also eine funktionstüchtige Infrastruktur voraus. Wie komme ich eigentlich darauf?
Mein Auge blieb eben an einem Thread auf LinkedIn hängen. Martin Blaschka stellte folgende Frage an sein Netzwerk.
Bist Du Team »Mobile Office« oder »Think Space«?
Die Frage schien ihn bei einer Bahnfahrt zu beschäftigen. Als jemand, der vor rund 10 Jahren wöchentlich mit dem Zug zwischen NRW und Baden-Württemberg pendeln durfte, trage ich viele Enttäuschungen in mir, was die Infrastruktur betrifft. Erst im Jahre 2023 verkündeten Deutsche Bahn und Telekom, der lückenlose Ausbau entlang der Schiene käme voran – seit 20211.
Jetzt ist es nicht gerade beliebt, dass die Menschen im Zug telefonieren. Im Auto ohne entsprechende Einrichtung ist das sogar verboten. Hält sich nur niemand dran und viele gestresste Pendler und Manager nutzen die Zeit hinter dem Steuer, um ihre Rückrufliste abzuarbeiten. Um Telefonieren geht es heute natürlich weniger. Wichtiger ist eine stabile und breitbandige Internetverbindung. Was ich mir vor zehn Jahren so sehr gewünscht hätte, war nicht etwas Strom, sondern genau dies. Ein Zug(ang) zum Netz. Längst sprechen wir von einem normativen Bedürfnis. An normalen Arbeitstagen sieht man mehr aufgeklappte Laptops im Großraumwagon als Bilderbücher im Kinderabteil. Als jemand, der noch mit dem in der Abbildung gezeigten Idyll einer Reise mit dem Zug aufgewachsen ist, darf sich gelegentlich daran erinnern, dass Reisen eigentlich erfunden wurde, um sich zu bilden. Es ist schwerer geworden, sein Leben in vollen Zügen zu genießen, während man in einem solchen sitzt.
Das bringt mich auf den Kommentar, den ich unter Martin Blaschkas Beitrag hinterlassen habe. Ich paraphrasiere das hier mal.
Als Selbstständiger kann ich offen sprechen, ohne Sorge, dass die Führungsebene auf LinkedIn mitliest. Die Bahn bietet mittlerweile Möglichkeiten, Arbeit zu verdichten, indem sie Routinetätigkeiten ermöglicht, die heute – eine Dekade zu spät – eigentlich automatisiert oder verbessert gehören. Beispiele sind E-Mails, die wie Chats genutzt werden, oder das Buchen von zuvor hochgeladenen Belegen, wie für Clickworker gemacht.
Nach Jahren der Enttäuschungen habe ich erkannt, dass ich selbst vor dem Bildschirm kaum zum Denken komme. Vielmehr begleiten mich nun Bücher, die ich natürlich auch mit dem Tablet lese. Bücher wie Goethe von Thomas Steinfeld muss man jedoch analog auf den Tisch am Vierer-Fensterplatz gleiten lassen. Weniger aus Koketterie. In einer Zeit, in der die Menschen nur noch Überschriften lesen, halte ich diesen Move schon für eine Bildungsoffensive.
Das Bild oben mit dem Buch von Goethe entstand übrigens in unserer Küche an diesem Samstagvormittag und mir fällt gerade auf, dass der Tisch ziemlich an den im ICE erinnert, was vielleicht erklärt, warum ich hier gern sitze.
Auch rate ich dazu, sich mit Mindmapping zu beschäftigen. Das geht im Kopf oder auf Papier mit Bleistift. Überhaupt das visuelle Arbeiten – eben das Graphic Recording Deiner Gedanken – hilft dem Unterbewusstsein, über zuvor angestellte Überlegungen intensiver nachzudenken.
Um das kurz auf den Punkt zu bringen. Bewegungen von New Work und die darin verschachtelte Selbstbestimmung unter Arbeit setzen sich immer stärker durch. Die Bedürfnisse aus dem Jahr 2014 passen nicht mehr zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in diesem Millennium. Die Gesellschaft ist schon wieder weitergezogen, wenn die Telekom mit der Bahn die Korken knallen lässt, weil die Funkmasten endlich stehen.
Martin Blaschka entscheidet sich auf kürzeren Strecken ohne drängende Termine immer öfter dafür, den Laptop zugeklappt und das Telefon stumm zu lassen. Da bin ich – wie oben beschrieben – bei ihm. Er findet, dass diese Momente ihm oft ermöglichen, aktuelle Sachverhalte klar zu reflektieren und anstehende Entscheidungen gründlich durchzudenken. Diese Zeit fühlt sich dann auch besser an als beim Durchforsten seines E-Mail-Postfachs, das Schreiben von Dokumenten oder das Ärgern über die dann doch noch gelegentlich mangelnde WLAN-Verbindung.
Ablehnungstherapie als Next Level radikaler Verbundenheit
Für weltoffene Geister hier noch ein ganz anderer Vorschlag. Europameister im Bahnfahren könnten einmal folgende Anregung ausprobieren.
Falls ihr einen Sitznachbarn habt, sprecht ihn doch einfach mal an, ob man nicht gemeinsam ein sinnvolles Gespräch führen sollte. Fragt am Tisch nach, ob Ihr bei Kartenspiel mitmachen dürft oder habt selbst eines dabei. Vielleicht finde ich außerhalb der Familie so jemanden, der mit mir Rommé spielt.
Rejection Therapy zählt zwar zum Formenkreis aus Maßnahmen zur Selbstoptimierung, die mir längst fremd geworden sind. Doch liegt auch eine Chance darin, weniger die Angst und Ablehnung abzubauen, als vielmehr diese seltsame Kulturpraxis des sich gegenseitigen Anschweigens in der Bahn. Aktuell trendet diese Lebenspraxis. Ich muss das jetzt nicht passiv-aggressiv auslegen. Indem man sich absichtlich Situationen aussetzt, in denen die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung hoch ist, provozieren wir allerdings, dass das Menschliche zutage tritt. Es geht darum, sich aus der Komfortzone heraus zu bewegen und Resilienz gegenüber Ablehnung zu entwickeln.
Wie wäre es, wenn wir gelegentlich wieder anerkennen, dass wir radikal miteinander verbunden sind und unserer Gesellschaft auch deshalb funktioniert, weil alle, die im Zug neben uns sitzen, ihr Ding durchziehen. Alle, die uns auf Bahnsteigen begegnen, haben Bedürfnisse und Emotionen und das ist so sehr menschlich, dass wir den Unterschied, den wir machen würden, wenn es mit dem Lächeln eines Fremden auf dem Flur, wo Du die Wartemarke löst, beginnt2.
Wir schauen den anderen Fahrgästen nur vor den Kopf, wenn dieser nicht hinter einem aufgeklappten Laptop verschwunden ist. Das beantwortet ganz sicher die Frage, ob ich das mobile Arbeiten bevorzuge oder einfach mal in Gedanken versunken sein möchte. Für mich gilt beides.
Und ich wünsche jedem die Kraft, der glaubt, sich wichtige Abgabetermine aufnötigen zu lassen, weil Fahrtzeit gleich Arbeitszeit ist.
Diese Form der irrationalen Verdichtung oder auch jedes Multitasking der besten Version von uns selbst, sollte mal wieder das alte Bilderbuch herausholen und entdecken, was Reisen einmal war, als man mit dieser Tätigkeit noch nicht zur Arbeit fuhr.
Siehe Pressemitteilung von Deutsche Bahn AG vom 01.06.2023
Die Stelle mit dem Bahnsteig passiert im Lied von Reinhard Mey etwas früher und sie lautet: »Jemand, der auf dem Bahnsteig wartet, im Gedränge ein Aufflackern, ein Gesicht. Die Ahnung und das Hoffen, nur ein flücht’ger Blickkontakt im fahlen Neonlicht.«
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