Über Nationalstolz und Humanismus als Leitkultur
Nationalstolz ist ein Phänomen, das uns wieder häufiger außerhalb von Fußballarenen begegnet und damit meine ich nicht den Parkplatz vor dem Stadion.
Drüben auf Threads fragte jemand, ob jemand Nationalstolz erklären könne. Das ist bestimmt nicht einfach und ist nicht mit ein paar Zeilen hier erledigt. Trotzdem fand ich das eine gute Gelegenheit, einen Versuch zu starten, das einmal für selbst für mich zu klären. So oft duckt man sich vor unangenehm wirkenden Fragen weg.
Also machen wir uns dran. Dazu muss ich Euch kurz zu mir runter ins Dorf entführen. Dort steht eine Eiche. Gepflanzt wurde sie von Rückkehrern des Frankreichfeldzuges 1870/71. Fünf junge Männer waren damals losgezogen, Deutschland zu verteidigen. Ein Deutschland, das es in der heutigen Form gar nicht gab. Erst nach dem Sieg gegen Frankreich gründete sich das Deutsche Kaiserreich in Versailles.
Noch heute feiert man bei uns Schützenfeste und die Eiche steht, wo sie steht. Der Brauch, ein Schützenfest zu feiern, widmet sich dem Versuch, sich der eigenen Verbundenheit bewusst zu werden und sich als Gemeinschaft zu bestätigen. Dabei fließt häufig viel Alkohol, weil der Westfale es nicht gewohnt ist, sich weinende in den Armen zu liegen. Das etwas schroff anmutende Äußere wird natürlich, wie bei vielen anderen Landbevölkerungen von einem weichen inneren Kern gestützt. Und tatsächlich wissen viele gar nicht mehr um die Bedeutung, warum ausgerechnet das Format Schützenfest in der ehemaligen preußischen Enklave entstanden ist. Abgeschnitten von der preußischen Obrigkeit konstituierte sich Verteidigung durch die Wehrhaftigkeit, die von den Bürgern selbst ausging und nicht von der preußischen Armee. Ich selbst bin in einem alten Fachwerkhaus aufgewachsen, das lange Zeit als Zollstation diente und später mit königlichem Beschluss um eine Poststelle erweitert wurde.
Meines Erachtens ist Nationalstolz eine Erbfolge. Es ist – wie beschrieben – noch nicht so lange her, dass um Identitäten gekämpft oder diese angriffslustig verteidigt wurden. Diese Form von Stolz war also einmal normativ begründbar, stützte notwendig den Überlebenswillen und mit aufkommenden Wohlstand verwahrlost das Gehabe eine Weile. Bis konservative Stimmungen das Potential erneuern, weil die politische Stimmung es hergibt und Machtansprüche in dem Lager nur diese Projektionsfläche kennen.
Nationalstolz ist also vermutlich eine Konstruktion unseres Geistes und eine gefühlte Verpflichtung, die nach hinten schaut, also eher von konservativen Kräften gepflegt wird.
Ich habe mich daraufhin an das Buch ›Identitätsfalle‹ von Amartya Sen erinnert. Dazu habe ich hier mal etwas aufgeschrieben.
Als Auftragshumanist stieg dann noch die Antwort von Julian Nida-Rümelin an Friedrich Merz in mir auf. Das Buch ›Humanismus als Leitkultur‹ erschien einige Jahr nach der Debatte um eine Deutsche Leitkultur.

Debatte um eine Leitkultur
Merz forderte damals, dass Ausländer sich einer deutschen Leitkultur anschließen sollten, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und erfolgreiche Integration zu gewährleisten. Diese Forderung stieß auf erheblichen Widerstand, insbesondere von jüdischen und muslimischen Verbänden, die Parallelen zur völkischen Ideologie der Nazis zogen. Kritiker argumentierten, dass die Debatte ausgrenzend wirke und nicht wirklich zur Integration beitrage. Selbst erinnere ich mich noch gut daran und dabei primär an die emotionale Seite der Debatte, die mit dem zwischenzeitlichen Verschwinden von Friedrich Merz von der politischen Bühne verschwand. Übrigens schreibe ich diese Zeilen nicht nur dort, wo man Schützenfest feiert, sondern auch im Wahlkreis des Abgeordneten Friedrich Merz.
Julian Nida-Rümelin bot in seinem Buch ›Humanismus als Leitkultur‹ eine alternative Perspektive an1, die auf humanistischen Werten wie Freiheit, Sozialstaat und Menschenrechten basiert.
Im Kapitel »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« schlägt Julian Nida-Rümelin folgende These vor:
Meine These ist, dass eine spezifische Form von Toleranz, die ich als ›Toleranz als Respekt‹ bezeichnen möchte, den normativen Kern einer offenen Gesellschaft bildet.
Er begründet das in Form von fünf Strukturelementen, die hier kurz skizziert werden sollen:
Normativer Universalismus, also die Orientierung an allgemein gültigen, ethischen Prinzipien, die für alle verbindlich sind und kulturelle Vielfalt integrieren.
Individualismus oder die Bedeutung des Einzelnen über kollektive Identitäten hinaus, mit normativen Konsequenzen für kollektives Handeln.
Begründungsorientierte politische Praxis als Politik, die auf universellen Gründen basiert, nicht auf strategischen Interessen.
Politische und kulturelle Öffentlichkeit in Gestalt eines Diskurses, getragen von einer Kultur des Argumentierens und gemeinsamer Verständigung.
Fallibilität oder die Institutionalisierung von Kritik, um Machtansprüche zu zähmen und neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Bringen wir das mal mit dem Nationalstolz zusammen.
Nationalstolz
Ein zentrales Element der Debatte um die deutsche Leitkultur bleibt der Nationalstolz. Die CDU-Rechten forderten damals und heute, dass jeder Politiker ein uneingeschränktes Bekenntnis zu deutschem Nationalstolz ablegen müsse. Andere Parteien haben das als Kern ihrer Politik übernommen und pflegen eine rechtspopulistischen Tonalität, mit dem Hang sich weiter zu radikalisieren. Nationalstolz wurde im Rahmen der Debatte in den Nullerjahren als ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und als traditionelle Gemütsverfassung dargestellt. Kritisiert daran wurde, dass Nationalstolz oft als Fehler von Untertanen angesehen wird und die Debatte darüber, wie er richtig geht, nur eine Stellvertreterdebatte sei.
Eigentlich sollte klar geworden sein, dass kein Weltbild, keine Ideologie oder Vorstellung heute von sich behaupten kann, exklusiv Recht zu behalten, wenn es um das Zusammenleben von Menschen geht. Nationalstaaten sind als Einheit aus Institutionen wahrscheinlich zwingend, um den Menschen einen Rahmen zu bieten, in denen sie sich selbst bestimmen dürfen. Doch auch das Phänomen des Nationalstaats ist vergleichsweise jung.
Die Nationalstaaten entstanden wie oben angedeutet im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Insbesondere im 19. Jahrhundert entwickelten sich, geprägt vom Nationalismus in Europa eine Reihe von Nationalstaaten. Italien wurde erst 1861 im Zuge des Risorgimento geeinigt, und Deutschland wurde 1871 mit der Deutschen Reichsgründung unter Ausschluss Deutschösterreichs zum Nationalstaat, was womöglich zur Tragödie beitrug, die sich dann im 20. Jahrhundert dokumentierte.
Oft geht die Idee vom Nationalstaat über ein normales Maß der Selbstbehauptung hinaus. Diktaturen würde ich den hier skizzierten Nationalstolz nicht unterstellen. Zur Schau getragene Loyalität dem eigenen Volk gegenüber ist dort häufig Angst vor Repressionen. Alle die Varianten zwischen freiheitlich demokratische Grundordnung und Autokratien mögen Spurenelemente von Nationalstolz in sich tragen, aber das trägt meisten nicht, wenn sich die Strukturen verändern. Eine Tatsache scheint zu sein, dass es ohne Revolutionen keinen Ausweg aus Diktaturen gibt.
Falscher Relativismus
Nationalstolz paart sich gern mit kulturrelativistischem Chauvinismus und zeigt sich dann in nostalgischen Anflügen, ein Erbrecht (s.o.) zu reaktivieren, das jeder Grundlage entbehrt. Tragisch dabei ist, dass man auch fremden Nationen ihren Stolz anerkennt. Im humanistisch universalen Sinne gibt es jedoch unter Chinesen nichts, was Menschenrechtsverletzungen unter den Vorzeichen rechtfertigen könnte, die mit Nationalstolz einhergehen. Auch nicht die Unterdrückung des russischen Volkes durch seine Eliten sollte auf diese Weise gerechtfertigt werden. Der sogenannte westliche Standard eignet sich gleichfalls nicht als Blaupause, wie man an der Debatte um eine Leitkultur erkennen kann und womöglich an dem derzeitigen Druck auf die Demokratie. Humanismus als Leitkultur zu etablieren, kann tatsächlich noch scheitern.
Nationalstolz war einst vielleicht begründbar und bleibt es womöglich auch aufgrund unausweichlicher Identitätssuche von Menschen, die sich zugehörig fühlen wollen. Dem Unterfangen darf man nur nicht in die Falle gehen, sondern stellt ihm einen Humanismus zur Seite, der trägt.
Bestenfalls. Dann wird es gut. Vielleicht.
Nida-Rümelin, J. (2006). Humanismus als Leitkultur: ein Perspektivenwechsel. C.H.Beck.